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Einfache Sozialsysteme
pp. 25-47
Abstract
Eine Theorie sozialer Systeme, die den Anspruch erhebt, auf alle sozialen Tatbestände anwendbar zu sein, stößt auf zwei Grenzfälle, deren Einbeziehung Schwierigkeiten bereitet: den Fall des umfassenden Sozialsystems der Gesellschaft und den Fall der elementaren sozialen Interaktion: der flüchtigen Begegnung, des kurzen Gesprächs zwischen Tür und Angel, der stummen gemeinsamen Fahrt im Eisenbahnabteil, des gemeinsam ungeduldigen Wartens auf das Umschalten der Ampel. In beiden Richtungen besteht ein Bedarf für konzeptuelle Klärungen — von den Schwierigkeiten fachgerechter Operationalisierung und empirischer Verifikation ganz zu schweigen. Dieser Bedarf fällt zusammen mit ohnehin unterbelichteten Randzonen soziologischer Forschung. Für den Bereich der Gesellschaftstheorie ist das ein geläufiger Sachverhalt. Hier hat sich im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen und seit Entstehen der Soziologie auch durch Veränderungen im wissenschaftlichen Anspruchsniveau eine alteuropäische Thematik aufgelöst, ohne adäquaten Ersatz zu finden (Luhmann 1970a; Luhmann 197lb). Die Gesellschaft kann als der große, human finalisierte Körper menschlichen Zusammenlebens nicht mehr zureichend begriffen werden. Weniger aufgefallen ist der gleiche Tatbestand auf der Ebene elementarer Interaktion. — Hier ist das menschliche Individuum eine zu kompakte, gleichsam zu anspruchsvolle Größe, die einer schärferen Analyse der Strukturen sozialer Interaktion im Wege steht. Bisher ist aber die soziale Interaktion ganz überwiegend als Beziehung zwischen Individuen behandelt worden. Die Sozialpsychologie, die am meisten zu diesem Forschungsbereich beigetragen hat, pflegt als Psychologie einen individuum-zentrierten Ansatz. Aber auch die soziologische Interaktionsforschung versteht Interaktion entweder von den Rollen oder neuestens von den Identitäten der Beteiligten her. Damit kommt teils zu viel, teils zu wenig in den analytischen Bezugsrahmen hinein — zu viel, weil keine Person, keine Rolle, keine Identität sich in einzelnen Interaktionsreihen erschöpft* (1); zu wenig, weil allein von solchen Randgrößen her die Eigengesetzlichkeit des sozialen Geschehens nicht zureichend scharf erfaßt werden kann. Eine Soziologie der Interaktion müßte Konzepte suchen, die das Soziale weder auf eine konditionierende Außenwelt des Individuums, noch auf bloße Intersubjektivität beschränken, sondern es zunächst eigenständig zum Thema machen. Die folgende Skizze versucht zu zeigen, daß und wie dies mit Hilfe systemtheoretischer Analyse geschehen könnte.
Publication details
Published in:
Luhmann Niklas (2005) Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.
Pages: 25-47
DOI: 10.1007/978-3-663-11447-5_2
Full citation:
Luhmann Niklas (2005) Einfache Sozialsysteme, In: Soziologische Aufklärung 2, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 25–47.