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220912

Das religiös-pädagogische Kindheitsmilieu Nietzsches

Johann Figl

pp. 24-36

Abstract

Wenn wir uns den frühesten Aufzeichnungen Nietzsches zuwenden, so werden wir unmittelbar mit der Frage konfrontiert, wann Nietzsche überhaupt schreiben gelernt hat. Der erste überlieferte Brief Nietzsches stammt vom Juni 1850; er ist also einige Monate nach der Übersiedlung von Röcken nach Naumburg verfaßt, die im April desselben Jahres stattgefunden hatte.1 Der Brief zeigt eine relativ ausgeprägte handschriftliche Fertigkeit, und es ist nicht anzunehmen, daß Nietzsche in den zwei bis drei Monaten, in denen er — vermutlich seit Ostern 1850 — die Bürgerschule in Naumburg besuchte, eine solche Übung erreicht hatte. Vielmehr ist zu vermuten, daß er schon vor der Übersiedlung lesen und schreiben gelernt hatte, sich also die grundlegenden Kenntnisse schon in Röcken, und somit vor dem sechsten Lebensjahr, aneignen konnte. In diese Richtung geht auch das Urteil der Mitglieder der Familie Nietzsches, insbesondere was seine Schwester und die Ausführungen seiner Mutter betrifft, wenn auch ein Gegensatz darüber herrscht, von wem zuerst Nietzsche unterrichtet wurde — vom Vater oder von der Mutter. In der 1895 erschienenen Biographie sagt Elisabeth Förster-Nietzsche über ihren Bruder: »Mit vier Jahren fing er schon zu lesen und zu schreiben an.«2 Und in dem 1912 veröffentlichten Werk »Der junge Nietzsche« schreibt sie, daß ihm der Vater den ersten Unterricht gegeben hatte; dieser war zwar 1848 erkrankt, doch in Zeiten der Besserung, d.h. an schmerzensfreien Tagen, habe er Predigten niedergeschrieben oder Konfirmanden unterrichtet, und — so fügt die Schwester hinzu — »im Frühling 1849 fing er auch an, seinen Fritz ein wenig zu unterrichten, der ein ungewöhnliches Interesse für Bücher, Lesen und Schreiben zeigte«.3

Publication details

Published in:

Schirmer Andreas (1999) Entdecken und Verraten: Zu Leben und Werk Friedrich Nietzsches. Weimar, Böhlaus Nachfolger.

Pages: 24-36

DOI: 10.1007/978-3-476-03269-0_2

Full citation:

Figl Johann (1999) „Das religiös-pädagogische Kindheitsmilieu Nietzsches“, In: A. Schirmer (Hrsg.), Entdecken und Verraten, Weimar, Böhlaus Nachfolger, 24–36.