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(Sprach-)Philosophische Parallelen bei Ernst Cassirer und Nikolaj Trubetzkoj

Christian Möckel(Humboldt University of Berlin)

pp. 15-35

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1 | Vorbemerkung

1Der aus der Marburger Schule des Neukantianismus, mit ihren Schulhäuptern Hermann Cohen und Paul Natorp, hervorgegangene Ernst Cassirer (1874–1945) war mit seiner an Kant orientierten, aber gleichzeitig innovativen Philosophie, die neben «Form», «Struk|tur» und «Symbol» auch «Sinn» bzw. «Bedeutung», später noch «Ausdruck», ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, sowohl im vorrevolutionären Russland als auch im frühen Sowjetrussland durchaus bekannt. Philosophen wie Aleksej Losev (Losev 1998 [1926/27]) und Boris Focht1 (Focht 1998 [1927/28]) haben ihn bzw. seine originelle Symbolphilosophie rezipiert, oder, wie Michail Bachtin, ihn «innovativ» gelesen, d.h. vielfach verwendete Auszüge aus seinen Schriften nicht als solche kenntlich gemacht (Pape 2015, 104f.). Bereits 1912 war Cassirers Werk Substanzbegriff und Funk|tionsbegriff (1910) in russischer Übersetzung erschienen (Cassirer 1912), sein 1921 verlegtes Buch Zur Einsteinschen Relativitätstheorie wird bereits ein Jahr später ins Russische übertragen (Cassirer 1922). Über die Rezeption Cassirers im vorrevolutionären Russland, in Sowjetrussland und im postsowjetischen Russland hat u.a. Roman Mnich Entscheidendes zusammengetragen und publiziert (Mnich 2015, 163–192; Mnich 2012, 81–132), ebenso Nina Dmitrieva (Dmitrieva 2007). Von einer Rezeption russischer Philosophen durch Cassirer ist mir nichts bekannt, bis auf eine Ausnahme, die ihre Besonderheiten hat.

2Ich meine die beiden russischen Linguisten Roman Jakobson (1896–1982) und Nikolaj Trubetzkoj (1890–1938), die philoso|phisch anspruchsvolle sprachwissenschaftliche Theorien entwickeln. Im vorliegenden Beitrag beschränke ich mich auf den 1938 in Wien mit achtundvierzig Jahren verstorbenen Trubetzkoj, den Cassirer erst in seiner Spätphilosophie nach 1941 wahrnimmt und rezipiert. Trubetzkoj selbst hat Cassirer m.W. nirgends erwähnt. Über den Bildungsgang Trubetzkojs, der sich weitgehend an der Moskauer Universität vollzog, vermag ich nicht mehr zu sagen, als Jakobson in den Autobiographischen Notizen von N.S. Trubetzkoj ausführt (Trubetzkoj 1977 [1939], 273–288); die Philosophie Kants oder die der Neukantianer scheint dabei keine größere Rolle gespielt zu haben. Bemerkenswert ist vielleicht, dass er 1913 einen Forschungs|aufenthalt an der Universität Leipzig verbrachte, an der seinerzeit Ferdinand de Saussure Germanistik und Cassirer Literaturwissen|schaft studiert hatten. In seiner Wiener Zeit (1922–1938) formuliert Trubetzkoj mit der «Phonologie» eine wichtige, Ideen de Saussures aufgreifende innovative linguistische Theorie, die präg|nante system- und bedeutungstheoretische Implikationen enthält. Nicht zuletzt deshalb lassen sich Parallelen zwischen den philo|sophischen, speziell sprachphilosophischen Positionen Cassirers und Trubetzkojs aufzeigen.

3Als Cassirer 1923 sein wichtigstes sprachphilosophisches Werk, Die Sprache (Cassirer 2001 [1923]), veröffentlicht, ein Werk, dem als Erster Teil der dreiteiligen Philosophie der symbolischen Formen auch eine große konzeptionelle Bedeutung zukommt, kennt er allerdings die philosophisch relevante Sprachtheorie de Saussures (Saussure 2001 [1916/1931]) nicht. Aber auch Trubetzkoj studiert dessen Theorie gründlicher erst ab 1929, wenngleich er bereits in den Weltkriegsjahren an der Moskauer Universität von ihr Kenntnis erlangt haben mag (Trubetzkoj 1977 [1939], 278). Selbst in Cas|sirers späteren Veröffentlichungen sprachphilosophischer Art fällt weder der Name Saussures, noch der Trubetzkojs, finden weder der Prager Linguistische Zirkel noch die strukturalistische Linguistik Erwähnung. Erst die zufällige Bekanntschaft mit Jakobson, der einige der Schriften Cassirers kennen soll, im Frühjahr 1941 (T. Cassirer 2003 [1948], 284f.), stößt ihn auf die wichtigsten Vertreter dieser damals aktuellsten Richtung in der Sprachwissenschaft.

4Cassirer interessiert diese in der Folge aber vor allem in allgemein philosophischer Hinsicht, da er wichtige Annahmen seiner eigenen Philosophie in ihr auf nachdrückliche Art und Weise bestätigt sieht. Deshalb erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, drei philosophische Grundideen Cassirers kurz zu erwähnen: Erstens, alle kulturellen Objektivationen einer Epoche werden von einem Denkprinzip beherrscht, weshalb sich der Wechsel des Denkprinzips letztlich korre|lativ in allen Bereichen der Kultur vollzieht; zweitens, das 19. und 20. Jahrhundert charakterisiere die schrittweise Ablöse des Substanz- und Dingdenkens durch das Funktions- und Relationsdenken; drittens, das naturgesetzliche Kausalitätsdenken werde im 20. Jahrhun|dert zunehmend durch ein Form-, Struktur- oder Stildenken ersetzt oder ergänzt, was insbesondere für die Kulturwissenschaften typisch sei. Letzteres gelte u.a. für die strukturalistische Linguistik ebenso wie für seine eigene «Philosophie der symbolischen Formen», die von Anfang an Strukturuntersuchungen anstellt.2

5Als wichtigstes Zeugnis der Überzeugung Cassirers, mit Trubetz|kojs «Phonologie» einen Beleg für dieses neuartige, fortschrittliche Denken gefunden zu haben, darf der letzte zu Lebzeiten, 1945, im Heft 1 der New Yorker Zeitschrift Word veröffentlichte Beitrag «Structuralism in modern linguistics» gelten (Cassirer 2007a [1945], 299–320). Der Beitrag bietet eine umfangreiche und tiefgründige Darstellung der Grundannahmen der strukturalistischen Linguis|tik,3 was zuvor schon im Werk An Essay on Man (1944) angeklungen war (Cassirer 2006 [1944], 132–139). Cassirer stirbt im Früh|jahr 1945 in New York. Im Grunde würdigt er an Trubetzkojs «Pho|nologie», dass diese ein zentrales sprachwissenschaftliches Problem, das der materialen Laute, nicht mehr kausalwissenschaftlich an|gehe, sondern vielmehr als ein Strukturproblem auffasst, und dass dabei für Trubetzkoj die Sprache keine Ansammlung von Wörtern, sondern ein System sei, d.h., eine systematische Ordnung besitze, die sich physikalischen oder historischen Kausalitätskategorien entzieht (Cassirer 2006 [1944], 134).

6Den hier angedeuteten philosophischen Gemeinsamkeiten mö|chte ich im Folgenden genauer nachgehen, beschränke mich dabei aber weitgehend auf Cassirers Werk Die Sprache (1923) und auf Trubetzkojs Grundzüge der Phonologie (1939). Der gewählte Termi|nus «Parallelen» soll zum Ausdruck bringen, dass wir hier nicht vom Einfluss des einen Autors auf den anderen, oder beider reziprok aufeinander, reden, sondern einfach die Tatsache konstatieren, dass bei Cassirer und Trubetzkoj vergleichbare philosophische Positionen vorliegen, ohne dass der Eine vom Anderen weiß, geschweige denn beeinflusst wurde oder Einfluss ausgeübt hat.

7Die Tatsache, dass nahezu identische bzw. einander sehr nahe stehende Auffassungen unabhängig und unerkannt nebeneinander existieren können, war u.a. 1960 von Claude Lévi-Strauss anlässlich der Besprechung der englischen Übersetzung von Vladimir Propps Morphologie des Märchens (1928) wie folgt bemerkt worden: «Wenn, wie Frau Pirkova-Jakobson [in der Einleitung zur Übersetzung – C.M.] schreibt, dass der [Autor] dieser Zeilen ‹die Methode von Propp angewandt und weiterentwickelt› zu haben scheint, dann be|stimmt nicht bewusst, denn das Buch von Propp ist ihm bis zur Veröffentlichung dieser Übersetzung [d.h. 1958] unzugänglich geblieben.» Etwas später heißt es im selben Beitrag: «Diejenigen von uns, die die strukturale Analyse der mündlichen Literatur etwa um 1950 aufgenommen haben, ohne unmittelbare Kenntnis des Versuchs von Propp, der ein Vierteljahrhundert vorher unternommen wurde, finden darin verblüfft Formeln, manchmal sogar ganze Sätze wieder, die sie ihm doch nachweislich nicht entlehnt haben.» (Lévi-Strauss 1992b [1960], 136, 148). In diesem Sinne möchte ich die nachfolgenden Feststellungen verstanden wissen.

2 | (Sprach-)Philosophische Parallelen

8Vergleichbare Positionen beim neukantianischen Sprachphilosophen und beim strukturalistischen Sprachwissenschaftler lassen sich, so meine These, an den Begriffen «System», «Struktur» und «Bedeu|tung», ergänzt um die Begriffe «Zeichen», «Funktion» und «Ganz|heit», aufweisen. Allerdings soll damit nicht behauptet werden, dass wir es hier mit einem analogen philosophischen Sprachverständnis zu tun haben; sprachwissenschaftliche Themen im engeren Sinne werde ich im vorliegenden Beitrag nicht berühren. Interessant ist wiederum, dass auch Lévi-Strauss in dem bereits erwähnten programmatischen Beitrag von 1945 diese Begrifflichkeiten hervorhebt, wenn er die von Trubetz|koj im Anschluß an de Saussure für die Sprachwissenschaft entwickelte «strukturale Methode» resümiert (Lévi-Strauss 1977 [1945], 45f.).

9Wenngleich offengelassen werden muss, wie und wann der Sprachwissenschaftler Trubetzkoj auf diese Begriffe stößt, da ich über seine frühen Schriften hier kein Urteil hinsichtlich der benutzten Begrifflichkeit abzugeben vermag, kann die Feststellung getroffen werden, dass er seine strukturalistische Sprachtheorie nicht zuletzt mit Blick auf de Saussures Auslegung der Sprache als überzeitlichem «System» und seine «synchronische» Sprachwissenschaft entwickelt, in letzterer spielt das Problem der Bedeutung, wie bereits angedeutet, eine zentrale Rolle (Trubetzkoj 1977 [1939], 283). Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass der Philosoph Cassirer von Anfang an mit den ge|nannten Begriffen operiert, und dies auch schon bevor er zu Beginn der 20er Jahre sein sprachphilosophisches Werk Die Sprache verfasst (Möckel 2018b, 655–702). Für seine Spätphilosophie wiederum, insbesondere in der Göteborger Zeit (1935–1941), ist charakteristisch, dass er über den Form- und Strukturbegriff die Grundlegung einer Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft anstrebt, die sich vom Kausal- und Gesetzesbegriff der Naturwissenschaft abhebt (Cassirer 2007b [1942], 355–486). Zudem vertritt er die von Jakobson geteilte Überzeugung (Jakobson 1974 [1936], 31), wonach in der modernen Wissenschaft generell eine Ablösung der Kausal- durch die Form- und Strukturbegriffe vonstattengehe.

10Eine gewisse methodische Schwierigkeit der Darlegung resultiert aus dem Tatbestand, dass bei beiden Autoren diese Begriffe nicht isoliert bzw. einfach isolierbar verwendet werden, sondern grund|sätzlich in einem inneren Zusammenhang stehen. Deshalb impli|zieren folgende möglichen Darstellungsweisen, die nach Begriffen gegliederte, die beide Autoren einbezieht, und die nach Personen gegliederte, die sich an den gewählten Begriffen abarbeitet, ihre Grenzen und Probleme. Im vorliegenden Beitrag wird der Vergleich der philosophischen Positionen an den oben genannten Begriffen illustriert, und dies in Bezug auf Aussagen der beiden Autoren und de Saussures, was gelegentlich eine Reihe von unvermeidbaren Wiederholungen und Dopplungen nach sich zieht.

2.1. Sprache als Zeichensystem

11In sprachphilosophischer Hinsicht kommt dem Systembegriff bereits in de Saussures 1916 (posthum) veröffentlichten Vorlesungen über Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft eine wichtige, ja metho|disch und sachlich entscheidende Rolle zu; er zieht sich in unterschiedlichsten Konstellationen durch die gesamten Vorlesungen. Bereits in der «Einleitung» finden wir eine Aussage, die sich sogar mit Cassirers späterer «Philosophie der symbolischen Formen» in Bezie|hung setzen lässt: «Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und [ist] insofern» anderen Systemen wie «der Schrift, dem Taubstummenalphabet, symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, mili|tärischen Signalen usw. usw. vergleichbar. Nur ist sie das wichtigste dieser Systeme» (Saussure 2001 [1916/1931], 19). Die Sprache ist für de Saussure folglich «ein System von Zeichen, in dem einzig die Ver|bindung von Sinn [d.h. Bedeutung – C.M.] und Lautzeichen we|sentlich ist» (ebd., 18). Ein weiterer Hinweis auf den Systemcharakter der Sprache, der sie zu einem bestimmt strukturierten Ganzen mit entsprechenden Gliedern macht, lautet: «Die Sprache ist ein System, dessen Teile in ihrer synchronischen [d.h. nichtkausalen – C.M.] Wechselbeziehung betrachtet werden können» (ebd., 135). Sie ist zudem als ein «Organismus» zu verstehen (ebd., 17).

12Unabhängig davon charakterisiert auch Cassirer, der 1923 beansprucht, eine philosophische ‹Formenlehre› (Morphologie) der Sprache bzw. der «reinen Sprachform» des Geistes auszuarbeiten (Cassirer 2001 [1923], VII, X), was mit einer linguistischen Formenlehre wohl nur wenig gemein hat, die Sprache als System. Der Sprachform liege, wie jeder Form des Geistes, eine «eigene Grundgesetzlichkeit der Formung» zu Grunde, woraus sie als ein ganzheitliches System entspringt (ebd., 122). Diese beweise sich «als ein Organismus, in welchem […] das Ganze früher als die Teile ist» (ebd., 281). Den Primat des Ganzen gegenüber den Teilen hatte auch de Saussure hervorgehoben (Saussure 2001 [1916/1931], 135), ebenso den von Cassirer formulierten Gedanken, dass sich in einem System die «einzelnen Glieder» in «ihrer notwendigen Verschieden|heit» wechselseitig «bedingen und fordern» (Cassirer 2001 [1923], 5). So heißt es bei Saussure u.a.: «Das Ganze hat einen Wert vermöge seiner Teile. Die Teile haben ebenfalls einen Wert kraft ihres Platzes im Ganzen, und deshalb ist die Anreihungsbeziehung des Teils zum Ganzen ebenso wichtig wie die der Teile unter sich» (Saussure 2001 [1916/1931], 152f.).

13Cassirer konstatiert zudem, dass das philosophisch und sprachphilosophisch relevante System Sprache weitere Teilsysteme enthält, z.B. das «differenzierte und fein abgestufte System von Lokalprä|fixen». Die Sprache und ihre Teilsysteme werden außerdem – wie schon bei de Saussure – als «Zeichensysteme» aufgefasst, in denen die einzelnen sinnlichen Zeichen die «Repräsentation eines bestim|mten Bedeutungsgehaltes» leisten (Cassirer 2003 [1923], 95). Auf den Begriff der Bedeutung kommen wir noch einmal zurück. Cassirer handelt von der allgemeinen, d.h. synchronischen Sprach|form, an der es das «Beständige und Gleichförmige» der Sprache als eines Systems zu erkennen gelte (Cassirer 2001 [1923], 103).

14Den Sprachphilosophen befriedigen, wie auch die Linguisten de Saussure und Trubetzkoj, die vorgefundenen phonetischen Theorien, die eher naturwissenschaftlichen Methoden folgen, nicht, ist er doch bestrebt, den Sprachlauten eine philosophische Erklärung zu geben: «Die Sprache», so heißt es in der «Einleitung und Problemstellung» zu seinem Werk zunächst, «scheint sich vollständig als ein System von Lautzeichen definieren und denken zu lassen» (ebd., 16). Dabei sei die Stellung eines jeden Lautzeichens als eines Sonderinhaltes des Be|wusstseins im «Netzwerk mannigfacher Beziehungen», d.h. im System Sprache, verbunden mit einem «Hinweis auf andere und wieder andere Inhalte» (ebd., 40). Obwohl es wohl zutrifft, dass Cassirer das Moment der «geistigen Gegenüberstellung [oder Opposition – C.M.] dieser lautlichen Eindrücke», auf der für de Saussure das System Sprache beruht (Saussure 2001 [1916/1931], 38f.), weniger betont, als später Trubetzkoj, so beschäftigt ihn doch die philosophische Relevanz und die philosophische Erklärung des Prozesses der «Gliederung der Laute» bzw. die «Entstehung des gegliederten Lautes», was er als geistige «Ausbildung und Formung der Laute» betrachtet (Cassirer 2001 [1923], 130).

15Die allgemeine geistige Funktion der Sprache im System der geistigen Ausdrucksweisen oder Formen von Kultur ist für Cassirer die der ‹Darstellung›, zu deren Vollzug sie «den Laut als Mittel und sinnliches Substrat» nutzt (ebd., 130). Den Terminus der «Darstel|lungsfunktion» gebraucht er nach eigener Aussage ab 1927 in «prinzipieller Übereinstimmung» mit Karl Bühler (Bühler 1923), dessen Arbeit ihm bei der sprachphilosophischen Behandlung des Problems im Werk Die Sprache (1923) noch nicht bekannt war (vgl. Cassirer 2002 [1929], 15ff., 132ff.).

16In Trubetzkojs Grundzügen finden wir den Systembegriff des Öfteren mit Blick auf de Saussure und vergleichbar mit Cassirers Schrift Die Sprache. Er wird dabei sowohl auf die Sprache im Allgemeinen als auch auf ihre Untersysteme wie das «grammatische System» der Sprache, ihr «phonetisches» und ihr «phonologischen System» etc. angewandt. Sprachtheorie müsse als Theorie eines Systems verstanden werden (Trubetzkoj 1977 [1939], 70). In diesem «synchronischen» Sinne spricht Trubetzkoj von der zu untersuchenden Sprache als einem aus «Regeln oder Normen» bestehenden «Sprachgebilde», das «ein System oder, besser gesagt, mehrere Teilsysteme [bildet]. […] Alle diese Systeme sind wohl ausbilanziert, so dass alle Teile [bzw. Glieder – C.M.] einander zusammenhalten, einander ergänzen, sich aufeinander beziehen» (ebd., 6). Zweifellos kommt diese linguistische Systemauffassung der philosophischen Cassirers sehr nahe.

17Der von Trubetzkoj benutzte Ausdruck «phonologisches System» erfordert, ein Wort zu der von ihm begründeten Disziplin ‹Phonologie› zu verlieren: Er unterscheidet – ähnlich wie schon de Saussure – die für die systematische (synchronische) Sprachwissenschaft relevanten «Sprachgebilde» [langue], die eine «Welt von Beziehungen, Funktionen und Werten» bilden, von den «Sprechakten» [parole] als einer «Welt von empirischen Erscheinungen» (ebd.,15). Die herkömmliche Pho|netik gilt ihm als naturwissenschaftliche «Sprechaktlautlehre» (ebd., 7), als «Wissenschaft von der materiellen Seite der [Laute der – C.M.] menschlichen Rede» (ebd., 14). Die von ihm begründete, philoso|phisch anspruchsvolle und relevante ‹Phonologie› wird dagegen als eine sprach-, geistes- und sozialwissenschaftliche «Sprachgebildelautlehre» verstanden (ebd., 7); eine Unterscheidung, der der Philosoph Cassirer 1944/45 zu folgen bereit ist. Die «Phonologie» habe, so Trubetzkoj, «am Laut nur dasjenige ins Auge zu fassen, was eine bestimmte Funktion im [allgemeinen] Sprachgebilde», und nicht im empirischen Sprechakt, erfüllt (ebd., 14). Auf den Tatbestand, dass hier die «mit Bedeutungsunterschieden» verbundenen «Lautunterschiede» («Phone|me») gemeint sind, ebenso auf die Art und Weise, «wie sich die Unter|scheidungselemente […] zueinander verhalten und nach welchen Regeln sie miteinander zu Wörtern (bzw. Sätzen) kombiniert werden dürfen» (ebd., 14), kommen wir noch einmal zurück.

18Trubetzkoj spricht ebenfalls vom Zeichencharakter der Laute und Phoneme im System, definiert – nicht zuletzt mit Blick auf de Saussure – die Sprache als ein «einheitliches Zeichensystem» (ebd., 3, 5). Mindestens genauso interessant ist, dass, wie bereits zuvor Cassirer für seine Sprachphilosophie, der Linguist für seine «Phono|logie» den Terminus der drei «Sprachfunktionen» Karl Bühler ent|lehnt (ebd., 18, 27), unter denen die «Darstellungsfunktion» (ebd., 23, 24) bzw. «Darstellungsebene» (ebd., 18), d.h. «die Untersuchung der darstellungs-relevanten lautlichen Seite des Sprachgebildes», sein besonderes Interesse weckt (ebd., 29). Die Darstellungsfunktion wiederum erfüllt bei Trubetzkoj drei spezielle Funktionen, wobei ihre «bedeutungsunterscheidende oder distinktive Funktion» hinsichtlich der «sprachlichen Einheiten» die entscheidende ist (ebd.).

2.2. Struktur bzw. Strukturgesetze statt Kausalgesetzen

19De Saussure behandelt in den Vorlesungen nur selten Struktur und Strukturforschung der Sprache. Der Strukturbegriff scheint da, wo er fällt, so etwas wie Grundbeziehungen eines Systems zu meinen, z.B. wenn von der «inneren Struktur der Sprache» die Rede ist (Saussure 2001 [1916/1931], 20). Auch die Subsysteme der Sprache bzw. deren Glieder besitzen eine Struktur, so lesen wir von der «Struktur des Wortes und [der] Struktur des Satzes» (ebd., 156).

20Cassirer, der bereits 1910 in seiner – wie erwähnt 1912 ins Russische übertragenen – Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff Untersuchungen zur «Struktur des mathematischen und naturwissenschaftlichen Denkens» vornimmt (Cassirer 2001 [1923], VII), vertritt die Position, dass auch Sprachwissenschaft und Sprachphilo|sophie als Strukturbetrachtung betrieben werden müssen; hätten sie doch die «tieferen geistigen Strukturverhältnisse der Sprache» freizulegen (Cassirer 2003 [1923], 77). Er vermutet im System der Sprache eine «einheitliche und allgemeingültige Struktur», die sich u.a. in einem dreifachen, systematisch relevanten Stufengang des «inneren Aufbaus der einzelnen Formwerte» der Sprache manifestiert: 1. in der Lautnachahmung bzw. im «mimische[n] Aus|druck», 2. in der «‹analogischen› Bezeichnungsweise» ohne «sachlich aufzeigbare Ähnlichkeit» zwischen Zeichen und Bezeichnetem (Bedeutung) und 3. im «symbolische[n] Ausdruck» ohne jegliche Form der Nachahmung der Sprache (ebd., 77, 79, 82–85). Nach|dem er Bühlers Theorie der drei Sprachfunktionen kennengelernt hat, ersetzt er dieses Schema durch das der drei Grundfunktionen des Geistes: Ausdruck, Darstellung, Bedeutung.

21Mit Blick auf den dreifachen Stufengang des inneren Aufbaus der Sprache – als eines Sprachgebildes – gliedert Cassirer sein sprachphilosophisches Hauptwerk systematisch in drei Abschnitte: Die Sprache in der Phase I. des sinnlichen Ausdrucks, II. des anschaulichen Ausdrucks (Darstellung) und III. als Ausdruck des begrifflichen Denkens. Im III. Abschnitt interessieren ihn die verschiedenen Formen der Begriffs- und Klassenbildung (Personen|klassen, Sachklassen etc.) und die sich unterscheidenden Strukturen der aus ihnen hervorgehenden Begriffe, was Konsequenzen für die «gesamte Struktur» einzelner Sprachen haben kann (Cassirer 2001 [1923], 275). Der Sprachphilosoph Cassirer ist zudem an der Einsicht in die «Struktur verschiedener und in ihrem gedanklichen Grund|typus weit voneinander abweichender Sprachkreise» interessiert, so die «Struktur der sogenannten ‹primitiven› Sprachen» (ebd., X).

22Auch für den Linguisten Trubetzkoj ist der Strukturbegriff zu einem entscheidenden Terminus geworden, fordert er doch in den zwischen 1935 und 1938 niedergeschrieben Grundzügen ebenfalls, genau wie Cassirer, die «Untersuchung der Strukturgesetze der phonologischen Systeme» (Trubetzkoj 1977 [1939], 8). Zu anderer Gelegenheit bringt er zum Ausdruck, dass «Probleme der strukturellen Sprachwissenschaft im allgemeinen und der Phonologie im besonderen» zu erforschen seien (ebd., 248). Eine so verstandene Sprachwissenschaft frage nach der «Struktur der phonologischen Systeme», nach «Struktur und […] Funktionieren des phonologi|schen Systems» (ebd., 62, 67, 69). Sie hat sich folglich für die «Gesetze der phonologischen Struktur» der Sprachen zu interes|sieren (ebd., 285), aber auch für die «Strukturtypen» der «Mor|pheme» (ebd., 262, 225) und anderer sprachlicher Einheiten (ebd., 78). Für Trubetzkoj scheint die «Struktur der [einzelnen – C.M.] Phonemsysteme» auf ihrer jeweiligen «Beziehung zum ganzen [phonologischen – C.M. ] Oppositionssystem» zu beruhen (ebd., 60, 64), was sowohl systemtheoretische wie repräsentationstheoretische Implikationen aufweist, wie sie auch Cassirer immer wieder thematisiert. Deshalb sei «das Phoneminventar einer Sprache […] nur ein Korrelat des Systems der phonologischen Oppositionen», seiner «bestimmten Ordnung oder Struktur» (ebd., 60).

23Hier erscheint erneut ein Vorgriff sinnvoll: Eine «phonologische Opposition» bildet bei Trubetzkoj ein «jeder Schallgegensatz, der in der gegebenen Sprache (ebd., 32) eine intellektuelle Bedeutung differenzieren kann» (ebd., 33). Die Glieder einer solchen Opposition werden «phonologische Einheiten» (ebd.) genannt, deren kleinste, nicht weiter zerlegbare Einheiten «Phoneme» heißen, die folglich «die kleinste[n] phonologische[n] Einheit[en] der gegebenen Sprache» bilden (ebd., 34). Die Phoneme erlauben es, die Wörter als «lautliche Ganzheiten», als «Gestalten», ein Terminus, der ebenfalls für den Philosophen Cassirer enorm wichtig und bezeichnend ist, zu unterscheiden und damit zu erkennen (ebd.). «Als Gestalt enthält jedes Wort immer etwas mehr als die Summe seiner Glieder (=Pho|neme) – nämlich jenen Ganzheitsgrundsatz, der die Phonemreihe zusammenhält und dem Worte seine Individualität verleiht» (ebd., 35). Der philosophischen Aussage nach könnte dieser Satz auch von Cassirer stammen.

24Die Struktur gibt also eine bedeutungsrelevante «innere Ord|nung» der Elemente bzw. ihrer Kombination im System vor, sie ist so etwas wie das Grundgesetz der Gegensätze, Oppositionen im System. Im System Sprache findet Trubetzkoj eine bestimmte Korrelation «zwischen der grammatischen und [der] phonologischen Struktur» vor: «Mit ein- und derselben grammatischen Struktur lässt sich nur eine beschränkte Anzahl phonologischer Systeme vereinbaren» (ebd., 285). Ähnlich wie bei Cassirer scheinen bei Trubetzkoj die Bildungsgesetze von Systemen als Strukturgesetze gedeutet zu werden (ebd.).

2.3. Bedeutung statt physischer Eigenschaften

25Im Grunde können sowohl Cassirer als auch Trubetzkoj auf de Saussures Unterscheidung zwischen dem physischen Laut und dem Gedanken (d.h. der Bedeutung), die dieser zum Ausdruck bringt, wobei Lautzeichen und Gedanke eine untrennbare Einheit bilden, aufbauen: «Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich […] eine Vorstellung [d.h. Gedanken, Bedeutung – C.M.] und ein Lautbild [d.h. ein Wort – C.M.]», wobei letzteres der psychische Eindruck des «sensorischen» Lautes sei, während ersteres «mehr abstrakt ist» (Saussure 2001 [1916/1931], 77). Mit anderen Worten, bereits de Saussure versteht «unter [einem Sprach-]Zeichen das durch die assoziative Verbindung einer Bezeichnung (Lautbild) mit einem Be|zeichneten (Vorstellung) erzeugte Ganze» (ebd., 79).

26Cassirer und Trubetzkoj verbinden das Problem der Bedeutung der einzelnen Lautzeichen, soweit sie «geformter Laut» und nicht bloß «sinnliche Wirklichkeit» sind (Cassirer 2001 [1923], 25), ebenfalls mit dem Begriff des Systems. Für Cassirer erfahren die Laut|zeichen ihre jeweilige Bedeutung durch das systematische Sinn-Ganze, durch ihren Bezug auf dieses. Nach ihm trägt eine solche Bedeutung ideellen, also beharrenden Charakter: «Das Zeichen bil|det gleichsam für das Bewußtsein das erste Stadium und den ersten Beleg der Objektivität, weil durch dasselbe zuerst dem stetigen Wandel der Bewußtseinsinhalte Halt geboten […] wird. […] Denn dem Zeichen kommt […] eine bestimmte ideelle Bedeutung zu, die als solche beharrt. Es […] steht als Repräsentant für eine Ge|samtheit, einen Inbegriff möglicher Inhalte […]» (ebd., 22). Cassirer hebt dabei ganz grundsätzlich hervor, dass es die «Philosophie der symbolischen Formen» mit Bedeutungsproblemen und nicht mit Kausalproblemen zu tun hat: «Das erste Problem, das uns in der Analyse der Sprache, der Kunst, des Mythos entgegentritt, besteht in der Frage, wie überhaupt ein bestimmter sinnlicher Einzelinhalt zum Träger einer allgemeinen geistigen ‹Bedeutung› gemacht werden kann» (ebd., 25). Er schreibt dem menschlichen Geist bzw. dem Bewusstsein eine urphänomenale «Grundfunktion des Bedeutens» zu, die «selbst schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist» (ebd., 39f.).

27Der Laut wird zum Sprachlaut, indem er ein «Bedeutungsmo|ment» erhält oder indem er gar zum «reinen Bedeutungslaut» wird (ebd., 137). Ganz im Geiste von de Saussures Feststellungen führt Cassirer an anderer Stelle aus, dass, wenn wir die Sprache «voll|ständig als ein System von Lautzeichen definieren und denken» (ebd., 16), wir beachten müssen, dass das «Lautzeichen, das die Materie aller Sprachbildung darstellt», in sich zwei Momente vereint: es ist nämlich gleichzeitig «geformter [d.h. bedeutungstragender – C.M.] Laut» und «Teil der sinnlichen Wirklichkeit» (ebd., 23). Die «Doppelnatur» dieser Zeichen sieht er in ihrer «Gebundenheit ans Sinnliche, die doch zugleich eine Freiheit vom Sinnlichen in sich schließt», verankert (ebd., 40).

28Eine der bezeichnenden philosophischen Grundannahmen Cas|sirers lautet, dass sich bei den Zeichensystemen der Sprache «zwi|schen dem Sinnlichen und Geistigen eine neue Form der Wechsel|beziehung und Korrelation» knüpft: die «reine Funktion des Geistes selbst [muss] im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen» (ebd., 17). Dabei handele es sich beim bedeutungstragenden sinnlichen Zeichen «nicht um ein einfach gegebenes und vorgefundenes Sinn|liches, sondern um ein System sinnlicher Mannigfaltigkeiten, die in irgendeiner Form freien Bildens erschaffen werden» (ebd., 18). Das Zeichen sei eben «keine bloß zufällige Hülle des Gedankens» (ebd., 16).

29Der als Zeichen aufzufassende geistig geformte Sprachlaut gilt dem Sprachphilosophen als «Ausdruck der feinsten gedanklichen und gefühlsmäßigen Differenzen» ; was er als sinnlicher Träger «unmittelbar ist, tritt jetzt völlig zurück gegenüber dem, was er mittelbar leistet und ‹besagt›» (ebd., 25). Diese etwas «besagende» Leistung sieht er, wie bereits zitiert, darin, eine ideelle, beharrende Bedeutung zum Ausdruck zu bringen und eine ursprüngliche Repräsentationsfunktion zu erfüllen (ebd., 20). Diese «Urfunktion der Repräsentation» (ebd., 32) definiert er als «die Darstellung eines Inhaltes in einem anderen und durch einen anderen» (ebd., 33). Die Funktion der Repräsentation bewirkt, dass «das Ganze bereits im Element [erfasst ist], wie das Element im Ganzen» (ebd., 32). Dies bedeutet, dass «jede Setzung eines Teils die Setzung des Ganzen, nicht seinem Inhalt, wohl aber seiner allgemeinen Struktur und Form nach [,] bereits in sich schließt.» (ebd., 35). Anders könne das Element, der Teil, das Einzelne nicht bestehen (ebd., 42f.). Für die «sprachlichen ‹Zeichen›» heißt dies, dass in ihnen folglich «ein geistiger Gehalt [erscheint], der an und für sich über alles Sinnliche [des Zeichens – C.M.] hinausweist, [umgesetzt] in die Form des Sinnlichen» (ebd., 40).

30Als System von ideellen Bedeutungen gliedert uns die Sprache die sprachlich erfasste Wirklichkeit zu einem sinnvoll strukturierten Ganzen (ebd., 18). Sprache als ein System von gegliederten Sprach|lauten, die immer mehr zu reinen «Bedeutungslauten» werden (ebd., 136), erfasst den sprachlich dargestellten Gegenstand «in seinen Strukturverhältnissen», die – so der idealistische Sprachphilosoph – vom «Bewußtsein konstruktiv erzeugt» werden (ebd., 129). Wir erhalten schließlich mit der sprachlich benannten Welt «ein System von erstaunlicher Mannigfaltigkeit und von den feinsten Bedeu|tungsschattierungen» (ebd., 144).

31Trubetzkojs Analyse und Charakterisierung eines «phonologischen Systems» der Sprache führt uns einerseits zu ganz ähnlichen Feststellungen, andererseits geht sie sprachwissenschaftlich über Cassirer hinaus. Nach ihm besteht ein solches System aus bedeutungstragenden bzw. -unterscheidenden Lauten, den «Phonemen», die wiederum ein System aus Gegensätzen bilden, ein, wie es bei ihm heißt, «ganzes Oppositionssystem» der Phoneme (Trubetzkoj 1977 [1939], 60). Ein Konzept der ‹doppelten Gliederung› bzw. Artikulation, wie es André Martinet 1949 einführt (Martinet 1949, 30–37), und wie es die Trubetzkojsche ‹Phonologie› mit ihren bedeutungsunterscheidenden Lauten im Grunde vorbereitet hat, findet sich in Cassirers sprachphilosophischen Überlegungen nicht. Aber vergleichbar mit Cassirer – und de Saussure – unterscheidet Trubetzkoj die «lautliche[] Seite des […] Sprachgebildes», die die Phonetik untersucht (ebd., 19) und seine bedeutungsmäßige Seite, die die «Phonologie» zu erforschen hat, welche die bedeutungsunterscheidenden Phoneme zu einem phonologischen System zusammenstellt. Dabei hält er fest, dass «die Phoneme und wortunterscheidenden […] Eigenschaften niemals Sprachzeichen an sich, sondern immer nur Teile von Sprachzeichen» sind (ebd., 204).

32Der russische Linguist verknüpft die Problematik der bedeutungsdifferenzierenden Lautunterschiede ebenfalls mit dem Problem der «Funktionen der einzelnen Phoneme» (ebd., 267, 269), d.h. auch hier kehrt der vom deutschen Symbolphilosophen immer wieder betonte Funktionsgedanke wieder. So hat er herausgefunden, dass im «phonologischen System» einer konkreten Sprache (z.B. eines Dialektes) den Funktionsunterschieden eines Phonems je unterschiedlichen Stellungen im System korrelieren (ebd., 262). Alle Lautunterschiede, die auf diese Weise «eine bedeutungsdifferenzierende Funktion […] bekommen», erhalten «phonologische Geltung», was für bloße «phonetische [Laut-]Unterschiede nicht zutrifft» (ebd., 264).

33Dieser philosophisch entscheidende Gedanke, dass die Elemente eines Ganzen ihre Bedeutung und Funktion ihrer jeweiligen Stel|lung im ganzheitlichen System verdanken, und nicht einer ihnen an sich eigenen Bestimmung, Eigenschaft etc., ein Gedanke, den auch der Philosoph Cassirer immer wieder äußert, wird von Trubetzkoj im Teil «Phonologie» der Grundzüge noch einmal ausführlich er|läutert: «Die Definition des Gehaltes eines Phonems», d.h. des «Inbegriffs aller phonologisch relevanten Eigenschaften», so heißt es hier, hänge davon ab, «welche Stelle dieses Phonem im gegebenen Phonemsystem einnimmt, d.h. […] davon, welchen anderen Pho|nemen es entgegengestellt wird» (ebd., 60). Die Stelle des einzelnen Phonems im «Phonemsystem» sei gleichbedeutend mit bestimmten bedeutungsrelevanten Oppositionen unter den Phonemen (ebd.).

34«Jedes Phonem», so Trubetzkoj weiter, «besitzt nur deshalb einen definierbaren phonologischen Gehalt, weil das System der phonologischen Oppositionen eine bestimmte Ordnung oder Struktur auf|weist. Um diese Struktur zu verstehen, müssen die verschiedenen Arten der phonologischen Oppositionen untersucht werden» (ebd.). Die verschiedenen Arten der Oppositionen wiederum bedingen «die innere Ordnung oder die Struktur des Phoneminventars als eines Systems von phonologischen Oppositionen» (ebd., 64). Und schließlich formuliert der Linguist noch einmal ganz grundsätzlich: «Die Abhängigkeit des phonologischen [d.h. signifikativen – C.M.] Gehaltes eines Phonems von der Stellung dieses Phonems im phonologischen System und folglich von der Struktur dieses Systems ist eine Grundtatsache der Phonologie» (ebd., 65f.). Darauf, dass dem Problem der Gegensätze bzw. Oppositionen in Cassirers Sprach|philosophie keine so zentrale Rolle zukommt, ist bereits hingewiesen worden.

3 | Epilog

35Ganz offensichtlich reifen bestimmte wissenschaftlich-philosophische Einsichten und Begrifflichkeiten nicht nur in einem breiteren kulturellen Kontext der einzelnen Epochen heran, sondern auch in analoger Weise in den westeuropäischen und osteuropäischen geistigen Zusammenhängen, umständehalber teilweise vermittelt über die nordamerikanischen Verhältnisse. Bestimmte neue Denkprinzipien, die in der Regel ihre Vorgeschichte durchlaufen haben, kommen in vielfältigen Kulturformen zum gleichzeitigen Durchbruch, und dies umso mehr in den Kulturwissenschaften und der Philosophie. Da|raus entstehen Impulse gegenseitiger Wertschätzung und Inspira|tion. Dies gilt ganz offensichtlich insbesondere für die Sprachwis|senschaft und die Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahr|hunderts.

36Durch seine späte Kenntnisnahme einiger Schriften Trubetzkojs vermag Cassirer noch zu Lebzeiten dessen Positionen als den eigenen sehr nahestehende zu würdigen. Die Tatsache, dass die Sprachlaute, die die «Phonologie» Trubetzkojs untersucht, «are not physical but significant sounds», die Tatsache, dass sie «their semantic function» erforscht (Cassirer 2006 [1944], 135), sei nicht zuletzt dem gemeinsamen Standpunkt, wonach «form and matter» der Sprachlaute «an indissoluble unity» bilden, geschuldet (ebd.). Cassirer teilt 1944/45 explizit die Auffassung, wonach für die Sprachtheorie der Sprachlaut – das Phonem – nur relevant sei als Bedeutungsunterschied, d.h. als signifikanter Laut. Der strukturalistische Linguist habe wie er, der Symbolphilosoph, verstanden, dass wir in einem «symbolic universe», d.h. in einem «universe of meaning» leben (Cassirer 2007a [1945], 314f.) und dass darauf alle Philosophie und Sprachwissenschaft einzustellen ist.

    Notes

  • 1 Boris Focht hielt im November 1927 und im März 1928 in der GAChN (Gosudar|stvennaja Akademija chudožestvennych nauk / Staatliche Akademie der Kunstwissen|schaften) zwei Vorträge über die Philosophie Cassirers (Cassirer 1998, 759).
  • 2 Im vorliegenden Beitrag stütze ich mich gelegentlich auf meinen in den Cassirer-Forschungen 18 abgedruckten Beitrag »Cassirer und die strukturalistischen Linguisten. Am Beispiel der Begriffe System und Struktur«(Möckel 2018a).
  • 3 Interessanterweise veröffentlicht der junge Claude Lévi-Strauss im selben Jahre 1945 seinen programmatischen Aufsatz »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie«im Heft 2 der Zeitschrift Word (Lévi-Strauss 1977b [1945], 43–67).

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Published in:

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Pages: 15-35

Full citation:

Möckel Christian (2022) „(Sprach-)Philosophische Parallelen bei Ernst Cassirer und Nikolaj Trubetzkoj“, In: E. Martin, M. Mrugalski & P. Flack (Hrsg.), Neo-Kantianism as an entanglement of intellectual cultures in Central and Eastern Europe, Genève-Lausanne, sdvig press, 15–35.