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222251

Gesichtsverlust und Gewaltsamkeit

Claudia Benthien

pp. 128-143

Abstract

Versuche der Wiederherstellung verletzter Ehre mittels Fehde und Blutrache leiten den Handlungsgang der ›Familie Schroffenstein‹. Der Ehrbegriff bei Kleist ist, wie ich zeigen werde, psychodynamisch eng an die Problematik der Scham und des symbolischen Gesichtsverlusts geknüpft. Beschämung führt zu physischer Gewalt, Gewalt löst wiederum Reue und Scham aus. Die Wechselseitigkeit dieser Affekte läßt sich in bezug zur parallelen Architektonik des Stückes setzen, zur symmetrischen Regularität von Figurenkonstellation und Handlungschronologie dieses Familiendnells. Denn ebenso wie die Affekte der Scham und der Schuld sich fortwährend ablösen, so wechseln die Schicksalsschläge zwischen den Schroffensteinern zu Rossitz und denen zu Warwand. In beiden verfeindeten Zweigen der titelgebenden einen Familie ist zu Beginn ein kleiner Sohn verstorben, ein weiteres Kind starb in beiden Häusern schon zuvor. Der Tod wird der jeweils anderen Seite angelastet, sei es als Mordanschlag mit Waffen, als versuchter Giftmord oder als heimliche Erdrosselung. In der einen wie der anderen Familie werden im Laufe des Stückes zudem Ritter beim Überbringen einer Nachricht der Gegenseite brutal vom Volk gelyncht, das Heroldsrecht und damit die Ehre der Grafen mißachtend. Beide Väter planen unabhängig voneinander schließlich den Mord an dem jeweils letzten Erben. Das Prinzip des ›Zahn um Zahn‹, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist in einem derart blind aufeinander bezogenen, polaren System endlos, sofern der mythische Anfang, die alles initiierende Tat nicht definiert werden kann.

Publication details

Published in:

(2000) Kleist-Jahrbuch 1999. Stuttgart, Metzler.

Pages: 128-143

DOI: 10.1007/978-3-476-03787-9_10

Full citation:

Benthien Claudia (2000) „Gesichtsverlust und Gewaltsamkeit“, In: , Kleist-Jahrbuch 1999, Stuttgart, Metzler, 128–143.